Überqualifiziert – ein Missverständnis
Je mehr ich weiß, umso einfacher bekomme ich einen tollen Job, eine gute Bezahlung, ein schönes Auto und die Hochachtung meiner Mitmenschen. So war das Anfang der 2000er Jahre. Manche können sich vielleicht noch erinnern. Heute hat sich das Blatt scheinbar gewendet. Mehr ist nicht gleich besser und (Aus)Bildung ist nicht gleich Gehaltssprung. Die sogenannte Überqualifikation grassiert und bedroht scheinbar unsere Gesellschaft. Das wirft zwei Fragen auf: 1) Was sind die Ursachen und 2) ist das denn überhaupt so?
Punkt 1 lässt sich naturgemäß weder in zwei Sätzen beantworten noch verallgemeinern. Auf den ersten Blick erscheint der unter Personalern gerne und oft verwendete Begriff „Überqualifiziert“ als perfektes Oxymoron – also ein Widerspruch in sich. Die Wahrheit ist in vielen Fällen trivialer. Überqualifiziert ist man vor allem plötzlich dann, wenn man bereits über 50, weiblich oder nicht mit dem Kollektivlohn einverstanden ist. Die eigenen Kenntnisse könnten auch als Gefahr für bestehende Strukturen („gewachsen“…) gesehen werden. Letztlich bleibt die „Überqualifikation“ eine rhetorische Stilblüte, um die ehrliche aber vielleicht harte Wahrheit nicht aussprechen zu müssen. Jemand ist schlicht nicht für den Job geeignet, die Chemie stimmt nicht oder die Anzahl der „Häuptlinge“ ist schon rein physisch begrenzt.
Das führt direkt zu Punkt 2. Die sog. Überqualifikation kann, wenn überhaupt, nur in Kombination mit dem zugewiesenen Aufgabengebiet gesehen werden. Und hier kommen Führungskräfte, wie beispielsweise Projektleiter, ins Spiel. Menschen gemäß ihren Begabungen, Neigungen und Interessen in Organisationen einzusetzen ist nett. Viel effizienter und wichtiger wäre es sie gemäß ihren individuellen Stärken einzusetzen. Zeitgeisterscheinungen wie burnout, boreout, etc. entstehen, weil Menschen sinnlose und irrelevante Tätigkeiten abspulen. Frei nach dem Motto „the same procedure as every year…“.
Vor allem Projekte bieten hier eine noch immer unterschätzte Chance, um sich fachlich und menschlich weiter zu entwickeln. Die Überqualifikation spielt hier keine Rolle, da jedes Projekt eine inhärente Neuartigkeit in sich trägt. Die Kombination aus verschiedenen Anforderungen, unterschiedlichen Charakteren und komplexen Herausforderungen kann nicht durch die Qualifikation in einem Teilgebiet kompensiert werden – sei sie auch noch so ausgeprägt. Ich stelle immer wieder fest, dass vor allem jene Mitarbeiter für Projekte ausgewählt werden die, bildlich gesprochen, nicht schnell genug am Baum sind und nicht jene Mitarbeiter, die das meiste Know-how und den größten Erfahrungsschatz in sich tragen.
Was nun also tun gegen die grassierende „Überqualifitionitis“? Der ehrliche Umgang mit Anforderungen und Erwartungen wäre ein erster Schritt. Nicht für jeden Job ist ein akademischer Abschluss notwendig und falls doch, so sollten dafür ausreichend Reserven für die erwartbaren Gehälter reserviert sein. Das beginnt schon bei „Wunderwuzzi“-Ausschreibungen und endet bei peinlichen Einstellungsgesprächen inklusive Absage. Voraussetzung dafür ist die umfassende Kenntnis über die tatsächlich notwendigen Anforderungen an Bewerber.
Projektleiter sind in den allermeisten Fällen keine Personalexperten. Sehr wohl sind sie es jedoch in der Analyse und Erhebung von Anforderungen, Rahmenbedingungen und der Verknüpfung unterschiedlichster Interessen. So manches Personal-Wunschkonzert kann vielleicht nicht erfüllt werden dafür erhält man qualifizierte Aussagen und muss Bewerber und Anbieter nicht mit unnötigen Wortschöpfungen und Notlügen belästigen.
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